Über Raben

von Paulus Hochgatterer

Über

Die winterliche Berglandschaft der Ennstaler Alpen. Ein Mann beginnt mit dem von langer Hand vorbereiteten Aufstieg zu einer im steilen Fels gelegenen Höhle. Dort verschanzt er sich mit seinem Präzisionsgewehr vor den von ihm erwarteten Verfolgern. Abgesehen von einem Kolkraben, der sich in seinem Versteck einnistet, bleibt der Mann, ein Deutschlehrer, allein mit seinen Erinnerungen: an eine unglückliche Liebe, an Bergtouren, verhasste Kollegen und eine Schülerin, die es ihm besonders angetan zu haben scheint.

Ein zweiter Erzählstrang handelt von eben jenem Mädchen. Aus der Ich-Perspektive berichtet es aus seinem von der Schule geprägten Alltag in Wien. Bald wird klar, dass neben nicht altersuntypischen makabren Zügen etwas Besonderes an dieser Schülerin ist. Sie lebt allein mit ihrem Kater in einer Wohnung, die sie ständig lüftet, mit Raumsprays, Insektiziden, Holzkitt und anderen Dingen bearbeitet. Kein Wort wird über die Familie beziehungsweise deren auffällige Abwesenheit verloren.

Eindeutige Erklärungen für das ungewöhnliche Verhalten der beiden Protagonisten wird man im ganzen Roman vergeblich suchen. Sie werden von einer inneren Logik geleitet, die so zwingend erscheint, dass die Unkenntnis ihrer Prämissen nahezu frustriert. Wer gerne spekuliert, wird hier freilich schnell einige nahe liegenden Rückschlüsse ziehen: Erliegt der Mann auf dem Berg paranoiden Wahnvorstellungen? Versucht das Mädchen mithilfe des chemischen Arsenals der Verwesung elterlicher Leichen beizukommen? Geschickt lässt der Autor die Fantasie des Lesers zum eigentlichen Täter werden.

Wer den Reiz des Rätsels nicht schätzt, wird immerhin durch reichlich situative Spannung darüber hinweggetröstet. Die Klettererlebnisse des Mannes im Fels versteht Hochgatterer, selbst passionierter Bergsteiger, packend zu schildern. Und der Psyche des Mädchens nähert sich der Kinderpsychiater -- wie zuvor der eines Buben in Caretta Caretta -- ohne zu intellektualisieren mit viel Einfühlungsvermögen und Kenntnis der Jugendkultur (zum Beispiel des Pokémon-Kults). Die Einblicke ins schulische Milieu mit all seiner Grausamkeit und Komik können ebenso überzeugen wie die lebendigen Charaktere der Lehrer und Schüler. Im Rabennest liegt am Schluss eine tote Maus. Das Ausmaß zwischenmenschlicher Räuber-Beute-Beziehungen lässt sich nur erahnen. --Mathis Zojer

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