Der große Selbstbetrug

von Kai Diekmann

Über

“Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht”, lautet ein Werbeslogan der Bild-Zeitung, deren Chefredakteur Kai Diekmann ist. Und mit seiner forschen Zeitgeistanalyse Der große Selbstbetrug wollte er wohl beweisen, dass er natürlich selbst auch zu diesen Mutigen gehört. Allein, um die Wahrheit mutig aussprechen zu können, bedarf es außer der nötigen Portion Mut noch einiger anderer Dinge. Analytische Disziplin und argumentative Redlichkeit wären zum Beispiel nicht schlecht. Und hieran gebricht es dem Autor in vielerlei Hinsicht.

Überhaupt zeugen die intellektuell unscharfen Bekenntnisse, die Diekmann zur Grundlage seines Essays über den Zustand der Republik gemacht hat, von nichts weniger als von Mut. Wer sollte ihm denn schon groß etwas anhaben wollen? Und warum oder wofür? Dafür etwa, dass er mit schlichten Argumenten, aber umso mehr Verve die Generation der „68er“ für so ziemlich jeden Missstand verantwortlich macht, den er mit messerscharfer Analyse in unserer Gesellschaft ausgemacht hat? Den angeblichen Verlust an Patriotismus, die tatsächlich mangelhafte Konstruktion unseres Rentensystems (dessen heute morschen Grundpfeiler in Wahrheit schon in den 50er Jahren fehlerhaft gesetzt wurden), die Kinderfeindlichkeit unserer überalterten Gesellschaft, den angeblich allgemeinen Hang zu einer übertriebenen Kapitalismuskritik und das realitätsblinde „Gutmenschentum“ mit seiner falschen Toleranz gegenüber kriminellen Aus- und Inländern und seiner Undankbarkeit gegenüber den USA, denen wir doch eigentlich alles verdanken. Nicht zu vergessen: der Terror der RAF und das unter „68ern“ angeblich so weit verbreitete Verständnis für die Täter.

Alles, einfach alles, was man tatsächlich oder vermeintlich mit Recht am Zustand von Staat und Gesellschaft beklagen kann, lastet Diekmann dieser in Wirklichkeit doch vergleichsweise kleinen und auch sehr heterogenen gesellschaftlichen Gruppe an, über die sich der Bild-Chef in gewohnt populistischer Rede ergeht. Und so ist Der große Selbstbetrug ein zwar abenteuerliches Buch, in der Summe aber nicht das Zeugnis eines Mutigen, der seine Leser mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert, sondern das eines publizistischen Hasardeurs. -- Andreas Vierecke

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