Die Liebesbriefe
Über
Wird es in 50 Jahren auch Sammlungen mit Liebes-Emails oder leidenschaftlichen SMS geben? Eher unwahrscheinlich. Deshalb sollte man sich an den Zeugnissen der aussterbenden Kunst des Briefeschreibens zwischen sich vermissenden Liebenden um so mehr erfreuen. Dylan Thomas war nicht nur einer der größten Lyriker des 20. Jahrhunderts, sondern auch leidenschaftlicher Briefverfasser: 34 Exemplare aus 20 Jahren sind in diesem Büchlein versammelt, beim ersten war er gerade mal 19, den letzen schrieb er 1953, wenige Tage vor seinem frühen Tod.Allerdings bekommen wir nicht nur Liebesbriefe zu lesen. Der walisische Dichter und Trunkenbold schrieb etwa auch an die exzentrische Dame Edith Sitwell, da geht es offensichtlich nicht um Liebe, sondern um Gönnerschaft und literarische Förderung. Und auch bei den Briefen, wo von Liebe und Leidenschaft die Rede ist, befassen sich die schönsten Passagen eher mit dem Alltag und gewähren uns Einblicke ins Dichterleben: „Morgens gehe ich spazieren und tue so, als ob es an diesem enttäuschten Firmament eine Sonne gäbe, ich trage sogar trotz des kalten Wetters (manchmal) keinen Mantel & schreite pulloverig über die schafigen Hügel“. Er beklagt sich über den schlechten Geschmack seiner Pfeife, auf die der Kettenraucher aus Gesundheitsgründen zwischenzeitlich umsteigt, und über hustende Schafe, die ihm den Schlaf rauben. Er träumt von einem Haus im sonnigen Süden, wo „olivenhäutige Jungfrauen mit Wein in ihren lotusfarbenen Gefäßen meinen geringsten Wunsch erraten“, auch wenn er weiß, dass das Paradies auf die Dauer unerträglich wäre: „Und eines Tages springe ich von meiner duftenden Liege auf und rufe: Um Gottes Willen, ich brauche eine Straßenbahn!“
Der „kauzige Wortklauber“, der uns hier begegnet hat Witz und beschreibt seine „Schildkröteleien“ mit bezaubernder Selbstironie. Gleichzeitig ist nicht ganz klar, ob nicht auch die Liebesschwüre eine gekonnte Inszenierung sind, um die Damen seiner wechselnden Affären bei Laune zu halten. Vor allem seine Ehefrau Caitlin, an die die meisten Liebesbriefe gerichtet sind, hatte zu leiden unter dem an Frauen und Alkoholexzessen reichen Lebenswandel des Wortkünstlers. Der Leser dieses Buches dagegen ist vom Leiden weit entfernt, kann sich ergreifen, erheitern, in jedem Fall aber unterhalten lassen von des Dichters Zeilen an ferne Damen. --Christian Stahl
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