Gestohlene Welten. Eine Kriminalgeschichte der Kartografie

Nonfiction von Miles Harvey

Über

"Die wahren Orte", so heißt es in Hermann Melvilles Walfängerroman Moby Dick, "sind auf keiner Karte verzeichnet", und der Erzähler in Robert Walsers Kurzprosatext "Moskau" nutzt den Atlas um die Jahrhundertwende zu einer Reise in die eigene Fantasie. Auch die alten Kartografen vermischten gerne Dichtung mit Wahrheit: Bis hinein ins 17. Jahrhundert eröffneten sie durch Reiche von Nixen und Seeungeheuern, kopflosen oder sechsarmigen Eingeborenen, Minotauren und Menschenmonstern in Randzeichnungen der Terra incognita als "wahre Orte" in der Ferne eine neue Welt. Auf der Erdkarte von Jodocus Hondius (um 1597) lauert gar der Teufel an deren Rand.

Was liegt da näher, als in den alten Chroniken zu blättern und in Atlanten in die fremden Gewässer der Seefahrer einzutauchen, um sich in der Vorstellungswelt der Kartenzeichner zu tummeln? Der Amerikaner Gilbert J. Bland war offenbar so besessen von diesem Gedanken, dass er jahrelang die kostbaren kartografischen Atlanten und Pergamente aus Instituten und Museen stahl -- 250 Exemplare im Wert von 500.000 US-Dollar umfasste seine Sammlung, als die Polizei ihn ihrerseits lokalisierte.

In Gestohlene Welten zeichnet der Wissenschaftsjournalist Miles Harvey die Geschichte des unscheinbaren Einzelgängers Bland in ihren Einzelheiten nach. Gleichzeitig beschreibt er die eigene wachsende Faszination den alten Karten gegenüber, erzählt von der historischen Bedeutung kartografischer Methoden -- und nimmt die Biografie Blands so letztlich vor allem zum Anlass, um eine Kriminalgeschichte der Kartografie aufzurollen, die bereits 400 Jahre früher in Portugal beziehungsweise Holland begann: zu einer Zeit also, als der Diebstahl von Landkarten nicht aus Liebhaberei geschah, sondern über die Vormachtstellung der Seefahrtnationen in der Welt entschied.

So ist Harvey mit Gestohlene Welten eine spannende, kundig und flüssig geschriebene Entdeckungsfahrt in frühere Welten gelungen, die nicht zuletzt hineinführt ins Herz der Finsternis kolonialer Politik. Da ist es eigentlich nur schade, dass seinem Buch so wenig Illustrationen beigegeben sind. Liebhaber der Kartografie werden ihre Karten also auch weiterhin stehlen müssen. --Thomas Köster

Erschienen

2000

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