Leonardo da Vinci (Biographische Passionen)
Über
Groß war die Enttäuschung des Autors, als er auf der Spurensuche nach seinem Idol im Städtchen Vinci endlich an der Geburtsstätte des großen Mannes angelangt war. Nichts in den Überbleibseln des Renaissance-Hauses wies auf die einstige Gegenwart des Universalgenies Leonardo da Vinci noch hin. Als Nuland überdies erfuhr, dass der Geburtsort des Schöpfers der "Mona Lisa" und des "Abendmahls" als keineswegs gesichert galt, stand für ihn fest: Leonardo war kein Geschöpf eines Ortes, keine in ein Denkmal zu gießende Erscheinung. Wie ein Blitz durchzog er seine Zeit und verschwand wieder, der Welt ein gewaltiges rätselhaftes Werk hinterlassend.In diesem neuen Band der noch jungen Claassen-Reihe Biographische Passionen, widmet sich Sherwin B. Nuland, Professor für Chirurgie, dem 1452 geborenen Maler-, Bildhauer-, Architekten- und Ingenieursgenie, einem seit 20 Jahren von ihm "abgöttisch verehrten Menschen". Womöglich gab der eigene Fachbereich -- Nuland lehrt Medizingeschichte -- den Ausschlag, Leonardos anatomischen Studien besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Auch auf diesem im 15. Jahrhundert noch kaum erforschten Gebiet, erwies er sich als Mensch, der, wie Freud schrieb, "in der Finsternis zu früh erwachte, während alle anderen noch fest schliefen".
Nuland, weniger an da Vincis künstlerischem Schaffen und biographischer Vollständigkeit interessiert, gelingt ein immens spannendes psychologisches Profil des homosexuellen (genauer: asexuellen) Künstlers und Naturforschers, eines Narziss, dessen lebenslange Triebunterdrückung, wie Freud schon in seiner Kindheitserinnerung des Leonardo darlegte, sich in unstillbarem Forscherdrang und Wissbegierde sublimierte. Immer wieder kreist Nulands Interesse um Leonardos bahnbrechende Studien der Körperfunktionen und der Anatomie der Geschlechtswerkzeuge (von denen der Meister eher abgestoßen war), die schließlich in der berühmten Koitus-Zeichnung von 1497 gipfelten.
Eine etwas andere, jedoch liebevolle und einfühlsame Annäherung an einen Jahrhunderte zu früh Geborenen, leidenschaftlich Neugierigen, der sich jeder Einordnung entzog und dessen Forscherdrang von seiner Epoche tragischerweise allzu enge Grenzen gesetzt wurde. --Ravi Unger
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