Die Sicht der Dinge

von Jirō Taniguchi

Über

Erzählte Jiro Taniguchi in Vertraute Fremde vom Vater, der seine Familie verlässt, zeichnet er in Die Sicht der Dinge eine Vater-Sohn-Beziehung nach, die aus der Abwesenheit der Mutter entsteht. Wieder ist die Handlung in den 60er Jahren angesiedelt. Der Vater aber, der bleibt, ist der eigentlich Abwesende.

Tod verursacht die totale Distanz zwischen den Menschen. Grafiker und Fotograf Yoichi erfährt am Arbeitsplatz, dass sein Vater gestorben ist. Widerwillig und nur auf Drängen seiner Frau hin beschließt er, zum Begräbnis zu fahren. Hinter seiner teilnahmslosen Großstadtmentalität verbirgt sich jedoch eine tiefe Verletztheit. Noch immer macht der Wahl-Tokyoter den Verstorbenen für das Weggehen seiner Mutter in seiner Kindheit verantwortlich.

Das ruhige Gesicht des toten Vaters und seine gütigen Gesichtszüge auf dem Foto vor dem offenen Sarg aber lösen bei Yoichi eine erste Annäherung und Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in den 50er und 60er Jahren aus. Während der Totenwache verändert sich Yoichis Fokus durch die Zwiesprache mit dem Bild des Vaters. Bei Roland Barthes ist die Fotografie die Wiederkehr des Toten; bei Taniguchi ist sie die Wiederkehr der Wahrheit, die Verschiebung der Sicht der Dinge. Und diese führt direkt zu Yoichis Identität.

Die elegische Geschichte rührt zu Tränen. Innerhalb von Carlsens Graphic-Novel-Reihe befindet sie sich in renommierter Gesellschaft mit Osamu Tezukas Adolf. Demnächst erscheint hier auch Taniguchis Träume von Glück -- ein Manga, der nicht vom Tod eines geliebten Menschen, sondern dem eines Familien-Hundes handelt.

Zusammen mit den Taniguchi-Veröffentlichungen bei Schreiber & Leser entsteht so allmählich eine kostbare Sammlung dieses ebenso sensiblen wie lebenserfahrenen Künstlers. -- Melanie Stumpf

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